H. Steinke: Albrecht von Haller

Cover
Titel
Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche


Herausgeber
Steinke, Hubert; Boschung, Urs; Pross, Wolfgang
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
André Holenstein, Historisches Institut der Universität Bern

Albrecht von Hallers 300. Geburtstag, dessen 2008 in zahlreichen Veranstaltungen gedacht worden ist, hat der Historische Verein des Kantons Bern verdienstvollerweise zum Anlass genommen, Leben und Werk des Berner Gelehrten mit einem gewichtigen Band seiner Archivreihe historisch zu würdigen. Der Untertitel verdeutlicht das dem Sammelband zugrundeliegende Konzept. In einem ersten Teil («Leben und Umfeld») werden ein curricularer Lebenslauf Hallers präsentiert und die Stadt und Republik Bern bzw. die Universitätsstadt Göttingen des 18. Jahrhunderts als die beiden Lebensmittelpunkte Hallers vorgestellt. Ins Zentrum der Betrachtung rücken die Herausgeber dann jedoch die wissenschaftliche und literarische Tätigkeit, welcher Haller seinen Ruhm im 18. Jahrhundert verdankte. In einem ersten Teil mit stärker monothematischen Aufsätzen («Werk und Wirkung») werden neben Hallers Dichtungen, dessen Abhandlungen zum Staatsdenken und Besprechungen literarischer Werke auch die Schriften zur Religion und Theologie, zur Anatomie und Physiologie, zur Embryologie und zur Botanik sowie sein praktisches Wirken als Arzt erörtert. Hier begnügen sich die Autoren jeweils nicht mit einer Zusammenfassung von Hallers Veröffentlichungen und der Charakterisierung seiner Auffassungen, sie positionieren diese im zeitgenössischen geistigen und wissenschaftlichen Kontext und berücksichtigen deren Wirkung in der Gelehrten- und Geisteswelt des 18. Jahrhunderts; dabei gehen sie auch auf die Kontroversen ein, welche Hallers Einlassungen in den unterschiedlichsten Feldern des Denkens und Wissens ausgelöst haben. Stärker transdisziplinär und systematisch sind in einem weiteren Teil («Haller in seiner Zeit») jene Beiträge ausgerichtet, welche das Selbst- und Fremdverständnis Hallers und dessen Praxis als Gelehrter, als Magistrat und als ökonomischer Patriot untersuchen. Hier werden recht eigentlich die Faktoren und Determinanten von Hallers Rang und Einfluss in der europäischen Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet, das Originäre seiner naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen gewürdigt, aber auch deren Sackgassen benannt, sowie die für den aristokratischen Republikaner und Berner Magistraten Haller kennzeichnende utilitaristische Verknüpfung von wissenschaftlicher Forschung und politischadministrativer Praxis herausgestellt. In diesen Beiträgen wird auch gezielt die umfassendere Kontextualisierung Hallers als einer prominenten Figur der europäischen Aufklärung und Wissenschaftskultur des 18. Jahrhunderts geleistet. Loser als die ersten drei Teile fügen sich die beiden letzten Teile in das Gesamtkonzept des Archivbandes ein. Einerseits werfen hier verdiente Vertreter der Haller-Forschung «Blicke auf Haller», die nochmals – bisweilen in stärker essayistischer und episodischer Form – Facetten von Hallers Biographie und Werk beleuchten. Andererseits werden in einem letzten Teil («Zeugnisse») aus kunstgeschichtlicher Warte die Porträts Hallers sowie aus bibliotheks- und archivgeschichtlicher Sicht das Schicksal von dessen Bibliothek und Nachlass vorgestellt. Das detaillierte Personen- und Werkverzeichnis erleichtert dem Leser die gezielte Benutzung des Sammelbandes und die systematische Verknüpfung der zahlreichen Beiträge. Die Herausgeber – selber ausgewiesene Kenner Hallers und des 18. Jahrhunderts – haben die Beiträge massgeblicher Experten der Haller-Forschung zu einem Sammelband zusammengefügt, der gemäss dem Selbstverständnis des Historischen Vereins eine populäre Aufbereitung und Synthese des aktuellen Standes der Haller-Forschung bietet. Die Tatsache, dass die Haller-Forschung seit dem letzten Jubiläum aus Anlass des 200. Todestages 1977 enorm ausgeweitet und diversifiziert worden ist und im vorliegenden Sammelband sowohl die Materialien der seitdem publizierten Briefeditionen als auch die reichen Ergebnisse des langjährigen Forschungsprojekts «Albrecht von Haller und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts» des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern und der Burgerbibliothek Bern eingearbeitet werden konnten, macht den Band mit seinen 21 Beiträgen aber auf absehbare Zeit auch für die wissenschaftliche Forschung zum unabdingbaren Referenzwerk und idealen Einstieg für jede Beschäftigung mit Haller. Angesichts des umfassenden, aspektreichen und im Fussnotenapparat sorgfältig belegten Bildes, das er von Hallers Leben und Werk zeichnet, mag es unangemessen erscheinen, eine konzeptionelle Lücke des Bandes zu benennen, deren Schliessung Elemente für eine Antwort auf die wichtige Frage geliefert hätte, welche die Herausgeber im Vorwort selber gestellt haben. Wie nämlich – so lautet die Frage, die auch im Jubiläumsjahr 2008 wiederholt gestellt worden ist – erklärt es sich, dass Hallers Berühmtheit im 18. Jahrhundert durchaus neben jener Voltaires und Rousseaus bestehen konnte und er mit diesen in einem Atemzug genannt wurde, der Berner Gelehrte aber in der Zwischenzeit «weitgehend aus dem Kanon der Allgemeinbildung» (S. 7) verschwunden ist, wohingegen Voltaire und Rousseau dort weiterhin ihren Platz behaupten? Die Herausgeber benennen zwar im Vorwort durchaus plausible Ursachen für dieses allmähliche Vergessen, ein systematischer Beitrag zum Nachleben Hallers als Dichter und als Wissenschaftler in der schweizerischen und europäischen Erinnerung hätte aber wohl eingehender nach den entscheidenden Weichenstellungen forschen können, welche Hallers Ausscheiden aus dem Pantheon der grossen Dichter und Gelehrten bewirkt haben. Diese Bemerkungen sollen keineswegs die Bedeutung dieses Werks schmälern, das zu den nachhaltig wirkenden Ergebnissen des Jubiläumsjahres 2008 zu zählen ist.

Zitierweise:
André Holenstein: Rezension zu: Steinke, Hubert; Boschung, Urs; Proß, Wolfgang (Hrsg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, Göttingen, Wallstein Verlag, 2008 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 85), 544 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 124ff.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 124ff.

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